Die Deportation am 22. Oktober 1940

  

Die 39 noch in Frankenthal lebenden jüdischen Männer, Frauen und ein Kind wurden am 22. Oktober 1940 mit einem Bus nach Ludwigshafen transportiert.

Am frühen Morgen des 22. Oktober 1940 wurden die in der Pfalz, in Baden und im Saargebiet lebenden "transportfähigen Volljuden" in ihren Wohnungen festgenommen und abtransportiert. Ein Merkblatt enthält genaue Anweisungen über das Vorgehen der beauftragten Beamten. Sein Wortlaut macht deutlich, mit welchen Schikanen und Strapazen die ohnehin bereits entrechteten Menschen behandelt wurden:

 

1. Ausgewiesen werden nur Volljuden.

 

Mischlinge, Angehörige von Mischehen und ausländische Juden, soweit es sich nicht um Ausländer der Feindstaaten und der von uns besetzten Gebiete handelt, sind von der Aktion auszunehmen. Staatenlose Juden werden grundsätzlich festgenommen. Jeder Jude gilt als transportfähig; ausgenommen sind nur die Juden, die tatsächlich bettlägerig sind.

 

2. Zur Erfassung der Juden sind in Ludwigshafen, Kaiserslautern und Landau Sammelstellen errichtet. Die Heranführung der Festgenommenen erfolgt mit Omnibussen. Für jeden Omnibus ist ein Kriminalbeamter als Transportführer bestimmt. Je nach Bedarf werden ihm Schutzpolizei-, Gendarmerie- oder Kriminalbeamte zugeteilt.

 

5. Nachdem den eingesetzten Beamten die Personalien der Juden bekanntgegeben

worden sind, begeben sie sich zu den Wohnungen der Betroffenen. Sie eröffnen ihnen alsdann, dass sie festgenommen sind, um abgeschoben zu werden, wobei darauf hinzuweisen ist, dass sie in 2 Stunden abmarschbereit sein müssen. Etwaige Zweifelsfragen sind dem Leiter der Sammelstelle mitzuteilen, der eine Klärung herbeiführen wird; eine Aufschiebung der Vorbereitungen ist nicht zuzulassen.

 

6. Von den Festgenommenen ist nach Möglichkeit mitzunehmen:

 

a) für jeden Juden ein Koffer oder Paket mit Ausrüstungsstücken; die zugelassene

   Gewichtsmenge beträgt für Erwachsene bis 50 kg, Kinder bis 30 kg,

b) vollständige Bekleidung,

c) für jeden Juden eine Wolldecke,

d) Verpflegung für mehrere Tage,

e) Eß- und Trinkgeschirre,

f) für jede Person bis zu 100 RM Bargeld,

g) Reisepässe, Kennkarten oder sonstige Ausweispapiere, die aber nicht einzupacken,   sondern von jeder Person bei sich zu führen sind.

 

7. Nicht mitgenommen werden dürfen:

 

Sparbücher, Wertpapiere, Schmuckgegenstände und Bargeldbeträge, die über die Freigrenze (100 RM) hinausgehen. Etwaige Gegenstände oder Werte dieser Art sind von den Beamten entgegenzunehmen und in einen Umschlag zu stecken. Der Umschlag ist zu verschließen und auf der Vorderseite mit dem Vor- und Zunamen, Wohnort und der Wohnung des Eigentümers sowie mit dem Namen, Dienstgrad und Dienstort des sicherstellenden Beamten zu versehen. Der Eigentümer der Gegenstände ist zu veranlassen, auf der Rückseite des Umschlages seinen Vor- und Zunamen handschriftlich zu vermerken. Der Umschlag ist dem Transportführer zu übergeben.

 

8. Für jeden Haushalts- vorstand oder selbständigen Juden ist ein Fragebogen nach Vordruck auszufüllen und von dem Beamten mit Unterschrift zu versehen.

 

9. Vor Verlassen der Wohnung ist folgendes zu beachten:

 

a) Vieh und sonstige lebende Tiere (Hunde, Katzen, Singvögel) sind dem Amtsvorsteher, Ortsgrup- penleiter, Ortsbauernführer oder einer anderen geeigneten Person gegen Quittung zu übergeben,

b) verderbliche Lebensmittel sind der NSV zur Verfügung zu stellen,

c) offenes Feuer ist zu löschen,

d) Wasser- und Gasleitung sind abzustellen,

e) elektrische Sicherungen sind auszuschrauben,

f) die Schlüssel der Wohnung sind zusammenzubinden und mit einem Anhängeschild

zu versehen, auf dem Name, Wohnort, Straße und Hausnummer des Eigentümers

vermerkt werden,

g) die Festgenommenen sind – soweit möglich – vor Abgang nach Waffen, Munition,

Sprengstoffen, Gift, Devisen, Schmuck usw. zu durchsuchen.

 

10. Nach Verlassen der Wohnung ist der Zugang zur Wohnung von den Beamten zu verschließen und mit dem hierfür vorgesehenen Klebestreifen zu versiegeln. Das

Schlüsselloch muss vom Klebestreifen verdeckt sein.

 

11. Nachdem die Festgenommenen zum Omnibus geführt worden sind, übergibt der Beamte die in Verwahr genommenen Gegenstände oder Werte, Formulare und

Schlüssel dem Transportführer, der sie auf der Sammelstelle abliefert.

 

12. Der Transportführer hat nach Ablieferung der Festgenommenen auf der Sammelstelle die ihm mitgegebene Liste zu überprüfen, nötigenfalls zu berichtigen und mit einem Erledigungsvermerk zu versehen.

 

13. Es ist unbedingt erforderlich, dass die Juden bei der Festnahme korrekt behandelt werden. Ausschreitungen sind auf jeden Fall zu verhindern“.

 


Dr. Nathan Nathan, viele Jahre Lehrer und Studienprofessor am Privaten Reallehrinstitut Trautmann & Wehrle in Frankenthal, wurde von Ludwigshafen aus nach Gurs deportiert. Der 77-Jährige starb bereits am 4. November 1940.

 

Für die Deportation nach Gurs standen auf den offiziellen Listen 827 Personen, 483 weiblich, 344 männlich. Aufgelistet wurden deren Namen, Geburtsdaten und Anschriften.

 

Aus Ludwigshafen wurden 183, aus Speyer 51, aus Mutterstadt 50, aus Kaiserslautern 46, aus Frankenthal 39 und aus Landau 35 Juden deportiert.

 

Die meisten der direkt aus der Pfalz Deportierten gehörten der Altersgruppe der 47- bis 70-Jährigen an, das heißt der Geburtsjahrgänge 1870 bis 1893. Die beiden ältesten waren 87 beziehungsweise 88 Jahre alt. Deportiert wurden 63 Kinder im Alter von zwei Monaten bis 17 Jahren.

 

Von verschiedenen Gurs-Deportierten liegen erschütternde Dokumente über den

Abtransport und die Fahrt nach Gurs vor. So erinnert sich die 1931 in Kaiserslautern

geborene Margot Wicki-Schwarzschild "aus der Kinderperspektive" – wie sie selbst

schreibt – an den Tag der Deportation:

 

"Rechtlos und wehrlos wurden wir mit einem Autobus in eine Wirtschaft am Rande der Stadt, der Löwenburg, gefahren. Viele andere Juden aus der Region saßen bereits trostlos herum, ständig wurden neue herangeschleppt. Es kamen Kleinkinder, Kinder, Erwachsene, alte und kranke Menschen.


Zwei Großtanten meines Vaters aus Gaugrehweiler, klein und gebrechlich, wurden von Sanitätern auf den Armen hereingetragen, weil sie gehbehindert waren… Der Tag in der Löwenburg wollte nicht vergehen. Ratlosigkeit, Angst, Fassungslosigkeit, Ohnmacht, Empörung – alle Facetten der Gefühlsbewegungen standen den Menschen ins Gesicht geschrieben. Niemand wusste, wohin es ging, niemand wurde informiert…".

 

Was muss in den Menschen vorgegangen sein, die nach fast sieben Jahren Ausgrenzung und Entrechtung vor einer ungewissen Zukunft fern ihrer bisherigen "Heimat" standen?

 

 

Der Bahnhof in Oloron-Sainte-Marie. Die braune Tafel links erinnert an die Ankunft der Juden aus der Pfalz, aus Baden und dem Saarland.

Zwei Züge aus der Pfalz und sieben Züge aus Baden transportierten die Menschen in Personenzügen über Dijon, Lyon, Carcassonne, Toulouse, Lourdes und Pau nach Oloron-Sainte-Marie am Rande der Pyrenäen.

 

In Oloron wurden die Deportierten mit Lastwagen in das 13 km entfernte Lager Gurs gebracht.

 

Am 29. Oktober 1940 informierte der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Reinhard Heydrich, SA-Standartenführer Luther beim Auswärtigen Amt in Berlin, dass am 22./23. Oktober 6.504 Juden aus Baden und der Pfalz "im Einvernehmen mit den örtlichen Dienststellen der Wehrmacht, ohne vorherige Kenntnisgabe an die französischen Behörden, in den unbesetzten Teil Frankreichs über Charlon-sur-Saône gefahren wurden. Die Abschiebung der Juden ist in allen Orten Badens und der Pfalz reibungslos und ohne Zwischenfälle abgewickelt worden. Der Vorgang der Aktion selbst wurde von der Bevölkerung kaum wahrgenommen. Die Erfassung der jüdischen Vermögenswerte sowie ihre treuhänderische Verwaltung und Verwertung erfolgt durch die zuständigen Regierungspräsidenten. In Mischehe lebende Juden waren von den Transporten ausgenommen."

 

Die Deportation am 22. Oktober 1940 war ein Modellfall für alle späteren Deportationen.